Wenn man heute in Literaturzeitschriften nach radikaler und auch substantieller Dichtung im Geiste der Avantgarde Ausschau hält, muss man an die Ränder gehen, hin zu den kleinen Lyrik-Zeitschriften, die kompromisslos ihren Weg gehen. Da ist in erster Linie die „Mütze“ zu nennen, die neue Zeitschrift des sich immer wieder neu erfindenden Lyrik-Editors Urs Engeler, der sein neues Blatt nun auch für Essays und aufregende Prosa-Projekte geöffnet hat. Die aktuelle September- und Dezember-Ausgabe, also die Nummer 2 und 3 der „Mütze“, sollte sich unbedingt aufsetzen, wer die neuesten Strömungslinien sprachreflexiver Dichtung kennenlernen will. Hier finden sich zum Beispiel bewegende Gedichte aus dem Nachlass des Dichters und Übersetzers Wolfgang Schlenker, der sich vor Jahresfrist das Leben genommen hat. Es sind Gedichte, die das Melancholie-Motiv auf dem berühmten Stich Albrecht Dürers aufnehmen und es in ein Mosaik aus Verlorenheits-Bildern eintragen. „stichwort minimieren“ heißt da ein Text, der von der fortschreitenden Schrumpfung des Lebens-Horizonts spricht und von dem paradoxen Daseinsgefühl des Ich, „ein eigenständiger und völlig korrekter teil / einer größeren entfernung zu sein“. Das schönste Gedicht aus dem „bruder morpheus“-Manuskript Wolfgang Schlenkers ist die „freilaufende geschichte“, ein Text, der eine Meditation über Dürers Bild „Kleines Rasenstück“ mit dem Bienen-Motiv der amerikanischen Poetin Emily Dickinson zusammenführt. Nicht zufällig hat Schlenker viele Jahre seines Lebens darauf verwendet, eine ganz eigene Tonlage für seine Übersetzungen der Gedichte Emily Dickinsons zu finden. Einige Meisterstücke lyrischer Prosa liefert in der Nummer 3 der „Mütze“ die Dichterin Jayne-Ann Igel, die mit ihren poetisch sehr fein gewebten Traumwanderungen ein phantamagorisches Flimmern erzeugt. Es entsteht – wie in ihren früheren Gedichten – ein „gären von bildern in allen teilen des körpers“. Ein schwer zu enträtselndes, gleichwohl faszinierendes Stück hermetische Poesie, in dem sich die Wörter zu verselbständigen scheinen, sind schließlich die „Quadratgedichte“ von Jean-René Lasalle, die in der „Mütze“ erstmals einem deutschen Publikum präsentiert werden. Übersetzt hat diese „Quadratgedichte“ der wohl sprachbesessenste Poet der Gegenwart, der Österreicher Franz-Josef Czernin.