Der Schweizer Lyrik-Editor Urs Engeler hat für die neue Ausgabe, das Heft 10 seiner seit drei Jahren erscheinenden Zeitschrift „Mütze“ einen herrlichen Essay des französischen Poeten Jean Daive über den österreichischen Maler Joerg Ortner übersetzt. Beide, Jean Daive und Joerg Ortner, waren mit Paul Celan befreundet und lernten sich bei Celans Beerdigung im April 1970 kennen. In seinem poetischen Essay beschreibt Daive den Malerfreund Ortner als einen Künstler, der seine Kunst „bis zum Gipfel des Desasters“ gelebt habe. Das letzte Jahrzehnt seines Lebens arbeitete Ortner mit obsessiver Intensität an einem Fresko im oberitalienischen Lucca; ein Fresko, das er en detail skizziert hatte, ohne seine Vollendung je zu erreichen. In den sehr sinnlich geschriebenen Erinnerungen, Anekdoten und Szenen, die Jean Daive zu einem Porträt Joerg Ortners verflochten hat, steht eine Geschichte im Mittelpunkt, in dem das Imaginationsvermögen des Künstlers in der Art eines Mysteriums aufblitzt. Bei einem Abendessen mit Freunden findet Ortner zu einer magischen Formel, die er unablässig wiederholt, bis er schließlich wie in Ekstase in Tränen ausbricht. Fast litaneiartig repetiert der Künstler einen Satz: „Man muss das Herz von Rimbaud waschen.“ Die stärksten Momente hat dieser exzellente Essay, wenn Daive in poetischen Evokationen von Licht und Wasser über seine ästhetische Erfahrung berichtet. Der Dichter wird zu einer Art „Lichtschreiber“, der die Intensitäten der Elemente beim Blick auf den nächtlichen Fluss darstellt: „Ein Mysterium, wahrhaftig – was sich in der Nacht auf der Oberfläche des Wassers kräuselt – eine Frage der Reflexion, eine Frage des Wetters, eine Frage des Lichtes, eine Frage der Strömung – unbeweglich und bewegt – am selben Ort, es fließt und es fließt nicht, rückwärts oder an Ort und Stelle. …Nicht immer ist es nötig zu sprechen [enoncé], um die Hauptsache zu zeigen.“ / Michael Braun, Poetenladen