Jonis Hartmann bespricht Mütze #31

Unsere weit vorgerückte Ohnmacht

Mütze 31, eine Lyrikmütze, beginnt und schließt als Buchstützen mit dem Gedicht Vertikale Realitäten bzw. Realitete vertikale der albanischen Dichterin Luljeta Lleshanaku, worin steht: „Du hast meinen Morgengruß gehört / wie einen stampfenden Elefant auf einem Klavier / oder die sich auflösenden Säume an der Jacke meines Vaters.“

Ein Konstatatgedicht von Stanisław Barańczak folgt, das Dagmara Kraus aus dem Polnischen übersetzt hat, Aufrücken, die „Ohnmacht“ unter einer Reihe „Hasswürstchen“ wird gezeigt, weit vorgerückt, und wie es scheint prophetisch, Barańczak starb 2014.

Ein Almanach zeitgenössischer deutschsprachiger Lyrik füllt die nächsten Seiten, wobei Bertram Reinecke zunächst mit barock-zusammengesetzten cuts zu Gedichtskulpturen unter dem Titel 2 Preisgetichte beginnt.

„Die Thränen mischen sich bey meiner Dinte eyn.

Wo könt ich prächtiger als da verwahret seyn?“

Konstantin Ames verfasst eine dichtschuldige Silbenbeatbox, mit Hochwut soliert:

„Janz Zapf Hopf Pick

Bach Elze Gräf Danz

Manz JUNG Drux Gnüg

Hell Bail Bánk ZAHL „NEIN! Du sollst die Stifte nicht essen!“

Wie als Antwort liest sich eine längere uncreative-writing Exposition von Hannes Bajohr aus Lernprozesse, die eine Exegese beziehungsweise einen Querschnitt deutscher Gegenwartslyrik (gefunden auf lyrikline.org) herausstellt, sozusagen eine weitere Lyriktabelle formt.

„Ich machte mir einen Knoten in den Leib

Die Beine eingehämmert und mit den Füßen in den

Hals hinein verkippt

Wie in viel zu großen Mücken.

(So daß diese Mücken mausen)“

Das Programm, das dichtet, antizipiert und keine Ahnung im herkömmlichen Sinne hat, eine Chance, die Bajohr ausspielt. Dicht auf kommen Gedichte von Thorsten Krämer, betitelt Kämmerlein obscura, die wieder unprogrammiert im analogen Sinne sind, doch sind auch sie programmatisch. In scheinbar leichtfüßigen Versen über Kopernikus und Tinte in der Gießkanne, geht es Krämer in Wirklichkeit um ein Halbzitatrecycling, in einer wie abgespulten Hochsprache beim Schlafwandeln, „Die Lust, das sind die anderen“.

„[…] Zerstreuung ist das neue Böse, du sollst nicht mein Selbstgespräch stören.“

Christian Steinbacher eignet sich Verse aus Hölderlins Blödigkeit an, „gerissen“ wie er schreibt, um sie in Oden zu verbauen. Ziemlich wirsch, „Lanzarote storniert, bleibt’s halt beim Kämmerchen“, ein Sprechen gegen die Form.

Der schwedische Lyriker Magnus William-Olsson, den unlängst Monika Rinck unter Hypnose übersetzte, wird hier von Peter Zimmermann, mit Nichts ist jemals zu spät, zweisprachig präsentiert. Ein beeindruckendes, vielschichtiges Nebularium, eigenartige Sequenz, bei der sich Zweifel so sehr reproduzieren, bis sie blühen in einem „Zeigefingerwind“. „Das gelbe Frühlicht zog / dich wie die Nadel einen Faden durch die aufgereihten Augenblicke. Was / gibt es außer dem, was ist?“ Menschen, die auf dem Weg ins Exil „in die Irre gehn“, „untergehn“, „ausgeblasenen Herzens“. Zwischen Antiken, Inquisition, Schiffen verknüpft William-Olsson hier wie ein dunklerer Svein Jarvoll historische Gefühlsebenen.

„Wen also, Magnus, rufst du jetzt als Zeugen der Wahrheit an?“

„Es gibt / eine Nacht in der Nacht“, „die Zeit, da Spindoktoren […] so taten, / als holten sie den Leuten Steine aus den Schädeln“.

Christian Filips übersetzt Dantes letzten Inferno-Canto neu für ein zeitgenössisches „Dantegastmahl der Diebe“ namens Lectura Dantis in 33 Gesängen, bei dem eine unendliche Sprachelegenaz auffällt ebenso wie Sicherheit in inhaltlicher Fest- und Ernsthaftigkeit. Dante und „meister mir“ Vergil begegnet die Flugmäusemode, und schließlich der „richtige ausgang“:

„Ich starb noch nicht und war am leben kaum;

jetzt denk dir selber, wenn du denken kannst,

was mit mir war, von beidem schier beraubt.“