Michael Braun bespricht Mützen #12 und #13

Ein literarischer Außenseiter, der mit seinen zersplitterten Versen die deutsche Unheilsgeschichte in seiner Dichtung reflektiert, ist der Heidelberger Lyriker Rainer René Mueller. Seine Gedichte sind den enigmatischen Fügungen Paul Celans verwandt, sie müssen „hindurchgehen“ – um eine Formulierung Celans aufzugreifen – „durch die tausend Finsternisse todbringender Rede“, um die deutschen Verbrechen benennen zu können. Das aktuelle Heft 13 der poetisch überaus inspirierten Literaturzeitschrift „Mütze“ präsentiert nun neue Gedichte von Rainer René Mueller, der nach seinem 1994 publizierten Gedichtband „Schneejagd“ zwanzig Jahre lang geschwiegen hat, bevor er mit Hilfe des Dichters Dieter M. Gräf ins literarische Leben zurückkehrte. Auch in seine neuen Gedichten trifft eine mörderische Unheilsgeschichte auf ein beschädigtes Ich, das nur unter einem besonderen historischen „neigung-/ :s`winkel“ sprechen kann. Überhaupt liefern die beiden neuen, zeitgleich erschienenen Hefte 12 und 13 der „Mütze“ intensiven poetischen Stoff. Der Literaturwissenschaftler Hans-Jost Frey legt in Heft 12 eine überaus feinsinnige Interpretation eines Gedichts von Samuel Coleridge vor, des englischen Romantikers, der einst behauptete, sein Gedicht „Kubla Khan“ sei im Traum entstanden und er habe es im Wachzustand nur noch protokollieren müssen. In einem großartigen Interview erklärt der amerikanische Lyriker Robert Kelly seine Poetik des „deep image“, des tiefen Bildes, das als ein „immens sinnliches Ereignis“ zu verstehen ist. In einem fabelhaften Essay rekapituliert der Heidelberger Lyriker Hans Thill seine poetische Entwicklung vom anarchistisch motivierten Linksradikalen zum surrealistisch inspirierten Lyriker und Übersetzer. Eine zentrale Rolle in dieser Verwandlung „vom Poetisch-Operativen ins Poetisch-Surreale“ spielt Thills Lektüre des französischen Dichters Guillaume Apollinaire, einer Schlüsselfigur der Avantgardebewegungen. In Heft 13 der „Mütze“ sind auch Gedichte des Schweizer Lyrikers Kurt Aebli zu lesen, die das dichterische Ich an der Grenze der Selbstauflösung zeigen – ein Ich, das von dem Zweifel an sich selbst verschlungen zu werden droht: „Aus so vielem von mir ist / nichts / geworden, und wär es nicht / nichts geworden, so wär es / nicht viel. // Das Rascheln der Blätter / unter meinen Schritten ist nicht / viel. // Aber es ist / von mir.“

http://poetenladen.de/michael-braun-zeitschriftenlese-august16.htm

 

Hans Thill / Warum toben die Heiden und die Völker reden so vergeblich?

Thill

Die Formel: „Warum toben die Heiden und die Völker reden so vergeblich?“ schien mir die richtige Frage zu stellen. Wichtig war die unzeitgemäße Diktion Martin Luthers, die Formulierung der modernen Einheitsbibel wäre mir ganz unbrauchbar erschienen, wenn ich sie überhaupt in Betracht gezogen hätte: „Warum toben die Völker, / warum machen die Nationen vergebliche Pläne?“

In dieser Formulierung aus dem 2. Psalm des Alten Testaments haben wir es mit einer rhetorischen Frage zu tun, die die Überlegenheit des Einen Gottes herausstreichen soll, indem sie die Bemühungen der Menschheit als eitel darstellt. Mir schien das Toben der Heiden und die Vergeblichkeit der Rede als Zeitdiagnose umso wahrhaftiger, als sie mit einem paradoxen Sprung den biblischen Zusammenhang zu verlassen schien. Gegenüber der Frage „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast schon ein Verbrechen ist“, kam mir die biblische Formel genauer, prägnanter und vor allem lustiger vor. […] Und die „vergebliche Rede“ schien mir damals die einzig mögliche Form eines poetischen Einspruchs gegen eine Öffentlichkeit, in der jede Aussage nach Meinungsgehalt einsortiert und ausgewertet wurde.

[Der poetologische Aufsatz von Hans Thill in Mütze #12 erscheint zur Veröffentlichung des roughbook 035.]

Robert Kelly im Gespräch

grandstreet

Robert Kelly im Gespräch:

Die Poesie spielte mir übel mit. Vielleicht ist es eine Jungssache – jetzt, wo Sie mich danach fragen, bin ich plötzlich daran erinnert, dass meine Annäherung an Gedichte wie meine Annäherung (oder die der meisten Jungen) an Mädchen war; jahrelang sind Mädchen Wesen von einem andern Stern und unverständlich und langweilig, vor allem langweilig, aber langweilig auf eine lästige Weise (was uns Jungs einen Wink mit dem Zaunpfahl geben sollte, dass es hier um mehr geht, als wir im ersten Augenblick sehen – aber Jungs achten selten auf Zaunpfähle). Dann passiert etwas, und Mädchen werden zur allerinteressantesten Energie auf diesem Planeten – aber natürlich, je mehr man sich ihnen nähert und je mehr man sie verehrt, umso mehr bleiben sie Wesen von einem andern Stern und unverständlich: aber jetzt sind das echte Qualitäten, es sind Intensitäten von einer Ordnung, die die einfachen Jungs-Ordnungen eines Jungen einer Revision unterziehen und seine zerstreuten Erregungen in eine einzigartige Leidenschaft verwandeln.

So war das für mich mit der Poesie. Ich konnte sie nicht ausstehen.

[Das Gespräch mit Robert Kelly, aus dem Mütze #12 einen Auszug bringt, steht im amerikanischen Original auf der Webseite von Robert: www.rk-ology.com, hier: http://www.rk-ology.com/Modern_Review_Interview.php; das Gedicht „Doors“, übersetzt von Urs Engeler und gleichfalls Teil von Mütze #12, findet sich im amerikanischen Original im Heft 50 der von Jean Stein herausgegebenen Zeitschrift Grand Street.]

Jean-Michel Rabaté / Pathosformel des Phantoms

Koshkonong Rabaté

Eines der perversen Vergnügen, die mir der regelmäßige Besuch des Philadelphia Museum of Art bietet, ist das Flanieren im großen Duchampsaal, wo ich beobachte, wie stark Das Große Glas bereits beschädigt ist …

[Der Text von Jean-Michel Rabaté, für Mütze #12 übersetzt von Urs Engeler, erschien zuerst in der von Jean Daive herausgegebenen Zeitschrift K·O·S·H·K·O·N·O·N·G· im Verlag von Eric Pesty.]

Jack Spicer / Vortrag in Vancouver

spicerhouse

Stefan Ripplinger hat die erste einer Reihe von vier 1965 in Vancouver gehaltenen Lectures übersetzt, die sich mit dem „poetischen Diktat“ beschäftigt:

Wenn du eine Gaumenspalte hast und versuchst, in Stimmen von Menschen und Engeln zu sprechen, sprichst du immer noch mit einer Gaumenspalte. Und das Gedicht wird durch das, was in dir ist, verfremdet. Deine Zunge ist gerade die Zunge, mit der du geboren worden bist, und die Energiequelle, worin immer sie besteht, macht Gebrauch von deiner Zunge, lässt sie Dinge tun, die du nicht für möglich gehalten hättest, aber deine Zunge möchte immer wieder in ihre natürliche Lage, in ihren natürlichen Gaumenspaltenausdruck und in deinen Dialekt zurückkehren. Und ebendas solltest du vermeiden. Es gibt viel, was du nicht vermeiden kannst. Die Energiequelle kann dich nicht Marsianisch, Nordkoreanisch, Tamil oder sonst eine Sprache sprechen lassen, die du nicht beherrschst. Die Energiequelle kann dich nicht Bilder benutzen lassen, die du nicht oder wenigstens bruchstückhaft besitzt. Es ist, als ob ein Marsmännchen in ein Kinderzimmer käme, wo es Klötzchen mit A, B, C, D, E in Englisch gibt, und damit eine Botschaft übermitteln wollte. Diesen Weg muss die Energiequelle nehmen. Aber die Buchstabenklötzchen verhindern das immer wieder.

Mütze #13 bringt die Diskussion, die sich an den Vortrag von Jack Spicer in Vancouver anschloss:

DL: Wie kannst du dann behaupten, du hättest dich hier komplett ausgespart?

JS: Nein. Was ich sagen will, ist: Ich habe doch von den Marsmännern gesprochen, die die Buchstabenklötzchen in deinem Zimmer nehmen und auslegen können. Du hast diese Klötzchen in deinem Zimmer, es sind deine Erinnerungen, es ist deine Sprache, es sind andere Dinge, die dir gehören, die sie aber neu arrangieren, um das sagen zu können, was sie sagen wollen. Sie benutzen meine Erinnerungen. In den diktierten Gedichten aller mir bekannten Dichter werden ihre Erinnerungen benutzt, ganz natürlicherweise, denn was anderes gibt es gar nicht.

Ist schon komisch, dass ich von Marsmännchen spreche. Um es noch komischer zu machen, nehmen wir mal an, die Marsmännchen wollten kommunizieren. Dann können sie doch nicht sagen: „pnixlz auf dem prazl“ und dergleichen. Sie würden deine Erinnerungen an das verwenden, was eher deine Angelegenheiten als ihre sind.

So besteht also die am nächsten liegende Verbindung, die ich oder die der Marsmann sieht, darin, dass meine Großmutter das Puzzle aufgeknabbert hat, das in ihrem Schlafzimmer war, als sie im Wohnzimmer starb, und das kann, je nach Erinnerung oder Person, alles mögliche bedeuten. Deshalb ist ja Lyrik so schwer zu übersetzen.

Mützen #12 und 13 sind da

#12:13 Kopie

Die Mützen #12 und 13 setzen die Vermittlung von Jack Spicers Werk fort: Stefan Ripplinger hat die erste einer Reihe von vier 1965 in Vancouver gehaltenen Lectures übersetzt, die sich mit dem „poetischen Diktat“ beschäftigt. Als Beispiel für „poetisches Diktat“ kann auch Coleridges Gedicht „Kubla Khan“ gelten, dem sich Hans-Jost Frey in seiner letzten Vorlesung widmet. Hans Thills poetologische Überlegungen untersuchen das Feld des Unverständlich-Verständlichen, das Poesie und Religion teilen. Robert Kellys Gedicht „Doors“ öffnet eine Tür, hinter der er von seiner Entdeckung der Poesie durch „Kubla Kahn“ erzählt. Die Tür zu Marcel Duchamp bleibt im Aufsatz von Jean-Michel Rabaté aber verschlossen. In Mütze #13 finden sich dafür neue Gedichte von Kurt Aebli, Rainer René Mueller und Eberhard Häfner.

Michael Braun bespricht Mütze #11

Ein elegantes Spiel mit einem Klassiker der Kunstgeschichte betreibt in der neuesten Ausgabe, der Nummer 11 der Literaturzeitschrift „Mütze“ der Dichter und Übersetzer Christian Filips. Er hat Gedichte des Renaissance-Genies Michelangelo ausgegraben, die den Maler und Bildhauer nicht als Heros formvollendeter Kunst zeigen, sondern als Experten für das Obszöne, Unflätige und Rohe. Michelangelo selbst, so Filips, habe die Vorstellung des erhabenen Künstlers und Schöpfergotts ausgehebelt – durch Lässigkeit. So heißt es in einem Gedicht in frivoler Schnoddrigkeit: „Vorm Hause liegt der Unrat von Giganten; / Wer Trauben oder Abführmittel fraß, / Scheißt hier herum und kotzt an alle Kanten. // Die Seele hat vom Leib dieses Vergnügen: / Er könnte sie, wenn sich der Darm entleert, / Auch nicht mit Käs und Nudeln wieder kriegen.“

http://www.poetenladen.de/michael-braun-zeitschriftenlese-april16.htm